Der jährlich erscheinende Sozialbericht, herausgegeben vom Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, umfasst zum einen die politischen Handlungsfelder, gesetzlichen Neuererungen und gesundheitspolitischen Maßnahmen des Ressorts, zum anderen versucht er Anworten auf die übergeordnete Frage nach der Zukunft des Sozialstaats zu geben.
Hier findet sich eine zentrale Forderung der IG24, nämlich die Abschaffung der Scheinselbstständigkeit. Wir danken den verantwortlichen Wissenschafter:innen!
Für Interessierte haben wir hier den entsprechenden Abschnitt veröffentlicht:
3.2.3.2 Beseitigung von Scheinselbstständigkeit
Eine weitere höchst prekäre atypische Form der Beschäftigung, die in hohem Ausmaß Migrant:innen trifft, ist die sogenannte Scheinselbstständigkeit bei Ein-Personen-Unternehmen (EPUs). Für sie gelten als formal Selbstständige die Schutzstandards des Arbeitsrechts wie ein kollektivvertraglicher Mindestlohn, bezahlter Krankenstand und gewerkschaftliche Vertretung nicht, was sie besonders armutsgefährdet macht (Aulenbacher et al. 2021a, Bachinger 2016). Sowohl bei selbstständigen Paketzusteller:innen, Plattformarbeiter:innen in der Essenszustellung als auch bei 24-Stunden-Betreuer:innen deutet vieles – aufgrund der wirtschaftlichen und persönlichen Abhängigkeit – auf einen Arbeitnehmer:innenstatus hin. In der 24-Stunden-Betreuung zeigt sich das beispielsweise darin, dass die Agenturen in der Regel die Konditionen des Arbeitsverhältnisses mit der Betreuungsfamilie (z. B. Arbeitszeiten, Tagessätze, Aufgaben etc.) verhandeln. Dass es sich faktisch um eine abhängige Beschäftigung und somit Scheinselbstständigkeit handelt, ist jedoch für die einzelnen Personen schwierig zu beweisen. Eine Erleichterung der Durchsetzung des Arbeitnehmer:innenstatus im Fall von Scheinselbstständigkeit sieht der Entwurf der EU-Plattformarbeitsrichtlinie vor, der klare Kriterien für einen Arbeitnehmer:innenstatus benennt und die Beweispflicht, dass es sich nicht um abhängige Beschäftigung handelt, bei Auftrag- bzw. Arbeitgeber:in sieht. Für einen armutsfesten Sozialstaat wäre es nicht nur sinnvoll, die Plattformarbeitsrichtlinie umzusetzen, sondern deren Bestimmungen auch auf alle Branchen auszuweiten. Noch wirkungsvoller wäre es, nach dem Vorbild des Vereinigten Königreichs oder der sog. Proposition 22 in Kalifornien eine gesetzliche Vermutung für alle Arbeitenden festzuschreiben, die nicht selbstständig mit Dienstleistungen auf dem Markt auftreten.
Bei 24-Stunden-Betreuer:innen – meist sind dies Frauen aus Rumänien, der Slowakei oder auch Kroatien (Durisova, 2021) – kommt hinzu, dass sie häufig hohe Vermittlungsgebühren an die Agenturen zahlen müssen, in ihrem Arbeitsalltag oft mit großen psychischen und physischen Belastungen konfrontiert sind und die Live-in-Situation eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit verunmöglicht (Aulenbacher et al., 2021a). Um die prekäre Situation von 24-Stunden-Betreuer:innen zu verbessern, bräuchte es kurz- und mittelfristig eine stärkere Regulierung des Vermittlungsgewerbes, die Abschaffung der Inkassovollmacht der Agenturen und unabhängige Qualitätsprüfungen der Agenturen. Langfristig müssten für einen armutsfesten Sozialstaat, der Care-Arbeit stärker honoriert, die Scheinselbstständigkeit beseitigt und tragfähige Modelle zur Anstellung der Betreuer:innen (z. B. bei staatlichen Trägern / Agenturen oder durch Genossenschaften) erarbeitet werden, wobei den Trägerorganisationen Kollektivvertragsfähigkeit eingeräumt werden müsste, um in Verhandlungen mit Gewerkschaften eintreten zu können. Wichtig wäre auch, staatliche oder staatlich beauftragte und kontrollierte Agenturen oder auch Genossenschaften in anderen Bereichen mit besonders prekärer Erwerbsarbeit wie etwa der Erntearbeit oder der Reinigung in Privathaushalten einzusetzen, um Mindeststandards zu garantieren.
(Schein-)Selbstständigkeit ist zudem maßgeblich auf die arbeitsrechtlichen Bestimmungen für Asylwerber:innen zurückzuführen. In der Paketzustellung zeigt sich dabei auch diese prekärste Form der Beschäftigung am untersten Ende der Subunternehmerkette mit (multinationalen) Logistikunternehmen an der Spitze (Benvegnù et al. 2018). Zwar können Asylwerber:innen mittlerweile grundsätzlich seit einem Verfassungsgerichtsentscheid 2021 einer unselbstständigen Erwerbsarbeit nachgehen (Peyrl, 2018), die Voraussetzungen sind jedoch weiterhin hoch. Für einen armutsfesten Sozialstaat braucht es daher einen tatsächlichen Arbeitsmarktzugang für Asylwerber:innen, um prekäre Scheinselbstständigkeit zu verhindern und Geflüchteten so früh wie möglich gesellschaftliche Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen.