am Montag, 15.11. startet die Radiokolleg-Reihe zum Thema „Das System 24-Stunden-Betreuung“. Die Beiträge werden immer um 09:05 Uhr ausgestrahlt und abends ab 22:08 Uhr wiederholt. Nach Ausstrahlung kann man die Beiträge 7 Tage lang nachhören: https://oe1.orf.at/programm/20211116#659786/Radiokolleg-Das-System-24-Stunden-Betreuung
Die Aufregung war groß als aufgrund der Reisebeschränkungen im vergangenen Frühjahr keine 24-Stunden-Betreuerinnen aus Osteuropa nach Österreich kommen konnten. Rund 350 Betreuerinnen wurden schließlich medienwirksam eingeflogen. Eine minimale Erleichterung, denn insgesamt arbeiten rund 60.000 Betreuerinnen, vor allem aus Rumänien, Bulgarien und der Slowakei, in Österreich. Rund 33.000 Haushalte sind auf dieses Betreuungsarrangement angewiesen.
Ein Arrangement, das ursprünglich nur als Übergangslösung gedacht war. Im Wahlkampf 2006 wurden illegal beschäftigte Betreuungskräfte aus EU-Oststaaten zum öffentlich diskutierten Thema. Die Politik musste handeln. 2007 wurde die Personenbetreuung, die landläufig als „24-Stunden-Pflege“ bezeichnet wird, legalisiert. Seither übt der überwiegende Teil der Betreuerinnen diese Tätigkeiten als selbstständig Erwerbstätige aus. Sie sollen betreuungsbedürftige Personen in der Haushalts- und Lebensführung unterstützen und nach Anleitung pflegerische Tätigkeiten durchführen.
Ausbildung für ihre Tätigkeiten müssen sie keine nachweisen.
Mehr als zehn Jahre später gilt das österreichische „Provisorium“ in den Nachbarländern Schweiz und Deutschland als Vorbild. Denn die Selbstständigkeit der Betreuerinnen garantiert die Leistbarkeit des Systems. Doch diese Selbstständigkeit wird von vielen angezweifelt. Immerhin spielen Agenturen in diesem System eine wichtige Rolle. Nicht nur rekrutieren sie Betreuerinnen, sie erheben auch den Betreuungs- und Pflegebedarf und legen den Preis fest. Was den Betreuerinnen an Verhandlungsspielraum bleibt, erstreckt sich oftmals nur auf die Ausverhandlung von Pausenzeiten. Und diese werden in vielen Haushalten nicht gerne gesehen. Immerhin suggeriert bereits der Name „24-Stunden- Betreuung“ eine permanente Verfügbarkeit und Arbeitsbereitschaft.
Im Privathaushalt untergebracht, müssen sich die Betreuerinnen der vorherrschenden Haushaltsordnung unterordnen. Nicht immer wird die Privatsphäre gewahrt. Nicht jede Familie akzeptiert die Notwendigkeit von Ruhezeiten. Die Betreuung von Pflegebedürftigen wird schnell zu einer entgrenzten Arbeit, in der Hingabe gefordert, doch Ausbeutung gelebt wird. Ein Spannungsfeld von Nähe und Distanz, dem nicht nur die Betreuerinnen, sondern auch die zu Betreuenden ausgeliefert sind. Sie sind auf professionelle Betreuung angewiesen und nicht immer in der Lage Missstände auch zu artikulieren.
Möglich macht dieses System das Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost. Arbeits- und Perspektivlosigkeit führen die Betreuerinnen nach Österreich und lassen sie auch prekäre Arbeitsbedingungen akzeptieren. Wie fragil das System ist, zeigt sich besonders in Krisenzeiten. Sie machen deutlich, wie angewiesen Österreich auf diese systemrelevanten Arbeitskräfte ist und wie sehr das Pflegesystem einer Reform bedarf.
Service
Literatur- und Linkliste:
Die Interviews mit Betreuten, Betreuerinnen und Angehörigen wurden dankenswerterweise von WortKlangWelt zur Verfügung gestellt. Das Kollektiv veranstaltet im Rahmen des Projekts „24 h. Wir bleiben wach“ am Freitag, 19.11.2021 ab 11:00 Uhr eine multimediale Performance zum System 24-Stunden-Betreuung im BRUX, Freies Theater Innsbruck.
Eine Teilnahme ist auch via Livestream möglich.
IG24 – Interessensgemeinschaft der 24-h-Betreuer_innen
CuraFAIR: Anlaufstelle für 24-Stunden-Betreuer*innen
Online Ratgeber der Wirtschaftskammer
Betreuungspool Vorarlberg
ÖQZ-24 Österreichisches Qualitätszertifikat für Vermittlungsagenturen in der 24-Stunden-Betreuung
Amnesty International: „Wir wollen nur ein paar Rechte!“ 24-Stunden-Betreuer*innen werden ihre Rechte in Österreich verwehrt, 2021
Brigitte Aulenbacher, Helma Lutz, Karin Schwitzer (Hg.): Gute Sorge ohne gute Arbeit? Live-in-Care in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 2021, Beltz Juventa
Bernhard Weicht, August Österle (Hg.): Im Ausland zu Hause pflegen. Die Beschäftigung von MigrantInnen in der 24-Stunden-Betreuung, 2016, LIT Verlag.