Im Artikel “24-Stunden-Pflege weist Sklaverei-Vorwürfe zurück” auf vorarlberg.orf.at wird ein stark verharmlosendes Bild der Realität in der Personenbetreuung vermittelt. Die größte Agentur des Landes kritisiert die Aussagen des Interregionalen Gewerkschaftsrates Bodensee, welcher das System Personenbetreuung als eine Form der modernen Sklaverei sieht. Die Agentur argumentiert dahingehend dagegen, dass die Honorare fair seien und Betreuungskräfte die Familien, in denen sie arbeiten möchten, selbst wählen könnten. Strukturelle Probleme werden in diesem Bericht als “Einzelfälle” abgetan.
Doch die Realität zeigt, dass genau das Gegenteil der Fall ist: Es sind systemimmanente Missstände, die viele Betreuer:innen betreffen – wie zum Beispiel die aktuelle Studie “Das Unsichtbare sichtbar machen” aus dem Jahr 2024 deutlich zeigt (mehr dazu unter www.24h-unsichtbar.at).
Verzerrtes Bild der Betreuungskräfte
Dass ausgerechnet ein “Best Practice”-Beispiel angeführt wird, während kritische Stimmen kaum zu Wort kommen, trägt zur Verzerrung der öffentlichen Wahrnehmung über eine marginalisierte Berufsgruppe bei. Ein gutes Verhältnis zwischen Betreuer:innen und Klient:innen ist wichtig, darf aber nicht dazu führen, dass Betreuungskräfte wie Familienmitglieder emotional vereinnahmt werden. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, klare Grenzen zu setzen und Rückzugsräume zu finden, da in privaten Haushalten oft permanente Verfügbarkeit erwartet wird. Zufriedenheit kann auch daraus entstehen, dass sich Menschen mit prekären Bedingungen abgefunden haben oder sich ihrer Rechte gar nicht bewusst sind – subjektive Bewertungen sind kein Beweis für ein funktionierendes System.
“Fairer” Verdienst?
Der im Artikel genannte Verdienst von 3.000 Euro in sechs Wochen erscheint nur im Vergleich zu moldawischen Einkommen attraktiv. Zudem zahlt die Betreuerin von diesem Geld noch 300€ Agenturgebühr für jeden Turnus. Für Betreuer:innen aus der Slowakei oder Rumänien, wo der Lebensstandard steigt, verliert dieses Argument an Gewicht. Sozialabgaben, Einkommensausfälle bei Krankheit oder zwischen Einsätzen sowie fehlender arbeitsrechtlicher Schutz relativieren das Einkommen stark. Unter prekären Bedingungen wie ständiger Verfügbarkeit, Arbeit auf Abruf und großer räumlicher Distanz ist ein Tagessatz von 70 Euro kaum fair – insbesondere, wenn die tatsächlichen Belastungen und Lebensrealitäten kaum thematisiert werden.
Diskriminierung?
Die Darstellung, dass fehlende Einladungen zu Familienfeiern eine Form von Diskriminierung seien, verharmlost Probleme wie Gewalt, sexuelle Belästigung oder schlechte Lebensbedingungen. Solche Aussagen verzerren die Realität und zeigen ein fehlendes Verständnis für die Rolle von Betreuungskräften. Diese sind keine Familienmitglieder und nicht zur Teilnahme an privaten Anlässen verpflichtet.
Einzelfälle oder strukturelles Problem?
Das häufige Argument von Agenturen, dass problematische Fälle Einzelfälle seien, wird durch zahlreiche Studien widerlegt, welche die negativen Erfahrungen vieler Betreuer:innen belegen und die Realität sichtbar machen. Das kann von den Agenturen nicht geleugnet werden.
Vermittlungsagenturen arbeiten unter klarem, wirtschaftlichem Eigeninteresse. Interessenvertretungen kommen in diesem Beitrag nicht zu Wort – sie weisen seit Jahren auf prekäre Arbeitsverhältnisse und mangelnde soziale Absicherung hin, von denen sehr viele Betreuerinnen betroffen sind.